Verhaltensbiologie kann keine Hundeerziehung!

Im Jahr 2014, somit vor acht Jahren, gab es von vielen Seiten vollmundige Ankündigungen zu einer positiven Zeitenwende im Hundetraining.
Mit einer behördlichen Zertifizierungspflicht für Hundetrainer*innen wurde die Hoffnung verbunden, dass wohl künftig vor allem die „schwarzen Schafe“ endlich von der Bildfläche verschwinden würden.
Stattdessen sollte eine „neue“ Generation Hundetrainer*innen mit modernster Kompetenzausstattung die Hundewelt und damit auch die Hundeerziehung auf eine neue und vor allem bessere Qualitätsstufe heben.
Es wurde und wird dabei vom Gesetzgeber ein sogenanntes „Mindestmaß an Sachkunde“ als erforderlich angesehen.

Nach nunmehr acht Jahren Hundetrainingsreformversuchen kann dieses Vorhaben wohl in vielen Teilen als gescheitert gelten.
Der Lichtblick, dass die rein autoritäre Hundeerziehung mit permanentem Druck bis hin zur sinnlosen Gewalt tatsächlich zunehmend verschwindet, wird mit der angeblich modernen und permissiven Hundeerziehung (frei von Druck, Zwänge und „Strafen“) wieder kolossal abgedunkelt.
Wir bewegen uns im Hundetraining gerade von der einen „Dunkelkammer“ in die nächste.
Nicht nur bei unseren Kindern sind zunehmende Verhaltensauffälligkeiten bzw. Aggressions- bzw. Gewaltbereitschaft festzumachen. Auch unsere Familienhunde zeigen unverkennbare Tendenzen zu fehlender Führungs- und damit Orientierungslosigkeit in Sachen Erziehung.
Verhaltensauffälligkeiten bei Hunden nehmen zweifelsfrei zu. Dafür gibt es sicher mehrere Ursachen, die mangelhafte Hundeerziehung steht aber nach meiner Überzeugung im multikausalen Kontext ganz weit oben.

 

 

WER HAT SCHULD?

Zahlreiche Hundetrainer*innen und vor allem auch Tierheimmitarbeiter*innen im gesamten deutschsprachigen Raum weisen bereits seit Jahren auf das Problemfeld „mangelhafte Hundeerziehung“ hin und beklagen deshalb auch in erster Linie die erzieherischen Defizite bei unseren Familienhunden. Und kaum einer hört hin!
Schuldzuweisungen kann und darf es aber nicht gegenüber Hundetrainer*innen geben, sondern vornehmlich gegenüber einem angeblich modernen Ausbildungssystem, das in großen Teilen auf der wackeligen Basis des Behaviorismus steht.
Ja, die Vermittlung der Lerntheorie basiert in den meisten Ausbildungseinrichtungen noch immer auf den Säulen der primitivsten Abteilung der Verhaltensbiologie, dem sogenannten (klassischen) Behaviorismus.
Damit geht es bei der Bewertung von Hundeverhalten um messbare Reiz-Reaktions-Beziehungen bzw. um Ursache-Wirkung-Modelle. Was aber fangen wir genau damit an, wenn wir so gut wie nichts zu den geistig-seelischen Prozessen unserer emotional hochintelligenten Familienhunde in den gängigen Lehrplänen finden?
Der Behaviorismus lehrt uns, Konditionierungsabläufe zu verstehen und auch umzusetzen.
Dass aber Konditionierungsmodelle im Zusammenleben und -wirken zwischen Mensch und Hund ein zwar bedeutsamer, aber dennoch oberflächlicher und unzureichender Aspekt im Umgang mit dem Hund darstellt, haben viele noch immer nicht begriffen.
Und so ist auch zu verstehen, dass Hunde, die nach diesem gängigen Lehrmodell „funktionieren“ sollten, genau diesen Anspruch nicht erfüllen können.
Denn abseits dieser primitiven Lerntheorie gibt es noch so viele zusätzliche Dinge zu beachten, die für das Wohlergehen eines Hundes erforderlich werden.

 

 

WARUM LERNTHEORIE IN DER PRAXIS HÄUFIG VERSAGT

Ihr Hund zieht beim Spaziergang immer an der Leine? Dann lassen Sie uns doch mal ein sehr häufig angewendetes lerntheoretisches Modell mit zweifelhaftem Ausgang als Beispiel in die Praxis umsetzen.
Immer wenn Ihr Hund an der Leine zieht, bleiben Sie stehen! Es geht somit nicht weiter! Sobald sich die Leine wieder lockert, gehen Sie wieder los. Strafft sich die Leine wieder, bleiben Sie wieder stehen! Es geht nicht weiter! Dann erneut warten, bis die Lockerung eintritt und wieder geht es weiter. Lerntheoretisch einleuchtend, denn Ihr Hund will ja nicht stehen bleiben, er will gehen. Somit müsste er ja irgendwann begreifen, dass er am besten vorwärtskommt, wenn er nicht an der Leine zieht.
So viel zur Theorie.
Jetzt müssen wir uns nur die Frage stellen, warum trotz lerntheoretisch korrekter Basis diese Methode bei so vielen Hunden überhaupt nicht funktioniert. Die Erklärung liegt auf der Hand: Vor allem dynamische bzw. temperamentvolle und extravertierte Hunde stellen diesen lerntheoretischen Grundsatz komplett in Frage und springen einfach auf einen anderen Grundsatz der Lerntheorie auf. Sie lernen nämlich die Abfolge einer sogenannten Handlungskette. Der Spaziergang besteht nämlich aus Gehen-Ziehen-Stehen-Gehen-Ziehen-Stehen-Gehen-Ziehen………
Permanente Wiederholungen führen damit nicht zu einer Verbesserung der Leinenführigkeit, sondern zu Automatismen innerhalb von manifestierten Handlungsketten.
So ist es kaum verwunderlich, dass sehr viele Hunde quasi lebenslänglich dieser Handlungskette folgen und damit ja letztlich auch Ihren Spaziergang zu Ende bringen.
Das völlig unpersönliche Verhalten des Menschen am anderen Ende der Leine verstehen sie nicht, dabei sind sie aber gottseidank nicht nachtragend und lassen es über sich ergehen.
Übrigens, die Aussage: „die Methode hat bei meinem Hund aber toll funktioniert“ darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie bei erschreckend vielen Hunden nicht oder nicht nachhaltig funktioniert.
Und das gilt übrigens für viele weitere erzieherische Übungen, die – in der Theorie stimmig – in der Alltagspraxis dann eben doch nicht funktionieren!

 

 

Unsere Ansprüche sollten mit dem Hund persönlich(!) kommuniziert werden!

Viel klarer wird es doch, wenn wir dem an der Leine ziehenden Hund den Raum nehmen, uns in den Weg stellen und ihm im Einzelfall auch mal „persönlich“ zurückdrängen. Dabei teilen wir unserem vierbeinigen Beziehungspartner viel unmissverständlicher mit, dass wir sein Verhalten nicht tolerieren! Dass wir konsequent intervenieren und auch bereit sind, bestimmte Ansprüche durchzusetzen.
Wenn wir stattdessen nur stehenbleiben, sagen wir ja nicht, was wir wollen, was richtig und was falsch ist und begegnen unserem Hund dadurch alles andere als fair!
Sicher befinden wir uns dabei in einer Auseinandersetzung aber jede konstruktive(!) Auseinandersetzung hat erst einmal grundsätzlich einen beziehungsstärkenden Charakter!
Dass das Wahrnehmen bzw. Erleben sozialer Reibungspunkte ein wichtiges Merkmal innerhalb einer sozialkompetenten Entwicklung darstellt, ist völlig unstrittig. Konstruktive(!) Auseinandersetzungen sind zudem ungemein Resilienz fördernd, schaffen Vertrauen und Orientierung zwischen zwei Beziehungspartnern.
Vorausgesetzt muss allerdings werden, dass konstruktive Auseinandersetzungen IMMER frei von Wut, Zorn oder ähnlichen emotionalen Entgleisungen stattfinden müssen. Auch müssen erzieherische Zwänge grundsätzlich positiv kompensiert werden. Das heißt, bei korrektem Verhalten muss auch ein Belohnungssystem (sozial/materiell) Raum einnehmen.

In den Lehrplänen für Hundetrainer*innen finden sich keine oder kaum vorhandene tiefgreifendere Erklärungen oder Aussagen zur „konstruktiven Auseinandersetzung“ zwischen Mensch und Hund.
Hier werden eher Tabus ausgesprochen und mit abenteuerlichen Begründungen tierschutzrelevante Vorhaltungen gemacht, die angeblich der ach so intelligente Mensch nicht nötig haben sollte. Genau hier aber beginnt die Dummheit unserer vermeintlichen Intelligenz Wirkung zu zeigen.

Die behavioristische Verhaltensbiologie kann hierzu nur von Ursache und Wirkung, Input und Output, Reiz und Reaktion im messbaren Spektrum berichten.
Welche Wirkung allerdings eine „konstruktive Auseinandersetzung“ auf geistig-seelische Entwicklungen im Positiven haben kann, wissen vor allem Verhaltenstherapeuten in der humanistischen, kognitiven Verhaltenstherapie. Und diese positiven Wirkungen erkennen wir seit vielen Jahren auch im Umgang mit unseren Familienhunden.
Am meisten Lebensfreude haben weder rein autoritär noch antiautoritär (permissiv) erzogene Hunde. Die höchste Lebensqualität haben erfahrungsgemäß Hunde, die beide Bereiche (kennen)lernen durften und somit die autoritative Erziehung als goldene Mitte zwischen zwei extremen Erziehungsstilen wahrnehmen konnten.

 

 

BEDENKLICHE ENTWICKLUNG

Der regelrecht zwanghafte Verzicht auf Zwänge schafft sehr bedenkliche, nebulöse und mit Grauzonen behaftete Atmosphären, in denen Offenheit, Authentizität und die direkte Kommunikation zunehmend verloren gehen. Wollen wir das wirklich?
Ist das die vielbeschworene Zeitenwende im Hundetraining? Na dann, Gute Nacht!
Es ist durchaus tierschutzwidrig, einen Hund zu treten, zu schlagen und ihm somit Schmerzen und Leiden zuzufügen. Es ist aber auch tierschutzrelevant, hinter der Kulisse der nackten Lerntheorie des primitiven Behaviorismus das Zusammenleben zwischen Mensch und Hund derart zu verkomplizieren, dass nur noch der Mensch zu verstehen scheint, was er tut.
Unsere Hunde hätten es deutlich lieber, würden wir klarer und unmissverständlicher mit ihnen umgehen.

Wenn nun im Geschriebenen Rundumschläge gegen die Verhaltensbiologie beklagt werden sollten, stimmt dieser Eindruck nicht. Verhaltensbiologie ist ein wichtiger Bestandteil in Sachen Fachwissen – Hundeerziehung aber kann sie nicht!

 

Thomas Baumann, 04. Juli 2022

 

Quelle: Internet, Facebook Thomas Baumann       https://www.facebook.com/thomas.baumann.1848